Andrew Norman Wilson &
Auf den ersten Blick scheint es in IN THE AIR TONIGHT um Phil Collins und den Mythos zu gehen, der den Musiker und seine mediale Persönlichkeit umgibt. Genaueres Hinsehen zeigt jedoch, dass das Video den Song und die den Sänger umgebenden Gerüchte als Ausgangspunkt dafür verwendet, Hollywoods mythenschaffende Macht sowie die Realitäten hinter den Kameras zu untersuchen. Im Film werden die Diskrepanzen zwischen Mythos und Realität sowie zwischen der künstlerischen Suche nach Erkenntnis und dem immer neuen Entstehen nicht zu beantwortender Fragen geschickt miteinander verwoben.
Das Werk wurde von einer nächtlichen Autofahrt des Künstlers während der Pandemie im Jahr 2021 auf dem legendären ›Pacific Coast Highway‹ inspiriert, als Phil Collins berühmter Song In the Air Tonight in Dauerschleife im Radio lief. Während einer dieser Wiederholungen bemerkte er, dass die Frau, die im Auto neben ihm fuhr, offensichtlich den Song auf derselben Radiofrequenz hörte: Tatsächlich sang sie den Song mit und warf sogar ihre Arme zum berühmten ›Drum Break‹ in die Luft. IN THE AIR TONIGHT entstand so aus der unheimlichen Synchronizität zweier einsamer Fahrer:innen in dem Moment, als deren getrennte Existenzen sich durch parallele Soundstränge kurzzeitig überschnitten und dann für immer trennten. Andrew Norman Wilsons Arbeit hat häufig ihren Ursprung in solch unheimlichen Situationen und entwickelt sich aus Bildern, Klängen und Ereignissen, die ihn ersuchen — oder gar heimsuchen. Aus ihnen erschafft er umhüllende, audiovisuelle Erfahrungen, die eine geisterhafte Macht auf das Publikum ausüben.
Indem er sich einige der kulturindustriellen Strategien zu eigen macht, mit der emotionale Publikumsreaktionen erzeugt werden sollen, spricht IN THE AIR TONIGHT die Verletzlichkeit der Zuschauer:innen explizit an. Phil Collins berühmter Song wird gesampled und gelooped bis zu einem Höhepunkt, der sich in einer kunstvollen Montage von Bildern sowie der intensiven — gar lyrischen — Erzählung widerspiegelt. Ruhm, Glanz, Glitzer, Tod und Schmerz, der pazifische Ozean mit seinen gewaltigen Wellen und verändernden Gezeiten, der Sunset Boulevard, die Erfindung irdischer Paradiese in Form von Penthäusern und Swimming-Pools sowie die kollektive Halluzination einer glamourösen, surrealen Hollywoodexistenz sind so ineinander verwoben, dass es fast schon unerträglich wird. Auf diese Weise zeigt IN THE AIR TONIGHT eine Darstellung des amerikanischen Traums (»because you have to be asleep to believe it«) und enthüllt dabei die Realität, die hinter den Vorstellungen, Träumen und Bildern liegt, die wir konsumieren. (Vanina Saracino)
Abbildungen: Andrew Norman Wilson, In the Air Tonight, 2020 © Andrew Norman Wilson
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